„Vielleicht muss der Sinn nicht bloß Sinn machen (…), sondern überdies klingen.“
Jean-Luc Nancy: Zum Gehör, 2014, S. 14.
Anhalten/Innehalten – das ist, so paradox es klingen mag eine der positiven Nebenwirkungen im Frühjahr 2020. In dem Jahr, in dem uns ein Virus zu maximaler Beschleunigung im Digitalen, bei gleichzeitig maximaler Entschleunigung im Lebensweltlichen zwingt. Der Gang zu Fuß im Freien wird zum Ausweg, zum existenziellen Akt ohne Ziel und nur sich selbst genügend. Es geht nicht mehr irgendwohin, sondern nur ums Gehen an sich, Hauptsache raus.
In unbewusster Ziellosigkeit erfahren wir plötzlich etwas, was ganz charakteristisch für eine zentrale Strategie der Klangkunst ist: Das Hin- und Zuhören dessen, was uns in den alltäglichen Wahrnehmungsroutinen, die auf ein pragmatisches Abscannen von Situationen ausgerichtet ist, abhandengekommen ist.
In seinem Buch „Zum Gehör“ stellt Jean-Luc Nancy nüchtern fest, dass wir schon längst in einer Kultur leben, in der das Erkennen und Wiedererkennen von Formen dominiert. Eine Kultur also, in der es primär um das schnelle Decodieren von Informationen geht und die sich nicht mehr die Zeit nimmt, um etwas zu bemerken, um aufzumerken.
Was aber ändert sich, wenn wir im eigentlichen Sinne zuhören, horchen, lauschen? Was erscheint, wenn nicht die Botschaft, sondern eher die Klanglichkeit an sich vernommen wird, wenn wir einer Stimme, einem Geräusch oder Sound um ihrer selbst willen lauschen?
Die Ausstellung mit Studierenden und Meisterschüler/innen von Ulrich Eller (HBK Braunschweig) sowie ehemaligen Stipendiaten des Braunschweig Projects versammelt zeitgenössische Positionen der Klangkunst, die sich mit der Präsenz von Klängen und Geräuschen aller Art befassen und audio-ästhetische Erfahrungen thematisieren. In der künstlerischen Umsetzung des Wahrnehmens, Erkundens, Dokumentierens und Erforschens von Klang kann sich Aufmerksamkeit für die Resonanz des Hörens öffnen. Was wir hörend vernehmen oder allzu oft überhören, wird hier zum künstlerischen Material. Die materialästhetischen Aspekte des Klangs bilden den Ausgangspunkt für ästhetische Strategien und künstlerische Gestaltungsprozesse zwischen bildender Kunst und Musik.
Dabei taucht trotz sehr unterschiedlicher Umgangsweisen mit Klängen immer wieder ein zentraler Aspekt in den Arbeiten der Künstler/innen auf: das akustische Ereignis. Mal ist es die akustische Realität oder ein gefundenes auditives Ereignis, das eingefangen und zum Ausgangspunkt einer künstlerischen Klangarbeit werden kann. Mal ist es die gezielte Erzeugung eines akustischen Ereignisses, die beispielsweise durch eine Handlung provoziert, durch den Mechanismus einer Apparatur ausgelöst oder einen digitalen Algorithmus bewirkt wird.
Auf diese Weise verweben sich vielfältige Erscheinungsformen des Klanglichen, die in ihren räumlichen, kulturellen, zeitlichen Bedingungen und individuellen Wahrnehmungen auf künstlerische Weise gestaltet und so für andere erfahrbar werden. Die Übergänge zwischen sinnhafter Sinnlichkeit und einem Sinn, der sich dem Sinn verweigert, weil es ihm nur ums Klingen geht, sind dabei durchaus intendiert.
Kerstin Hallmann