Ingo Schulz

Was ist eine Ausstellung in einer Galerie gegen die Gründung einer Galerie

frei nach Brecht

Ursprünglich hatte ich für Tosterglope eine andere Option in Planung. Anknüpfend an meine Arbeit „Wellenfeld“ (Klangstätten 2017, Braunschweig) wollte ich den im Zentrum der Hofanlage von Tosterglope liegenden kleinen Gartenteich mit einer rein visuellen Arbeit bespielen. In Braunschweig hatte ich über die gesamte Breite eines Teilstücks der Oker mitten in der Stadt, an einer viel befahrenen Straße mehrere hundert Meter Aquariumschlauch zum „Belüften“ der Oker verlegt. Luftblasen riefen kreisrunde Wellenringe hervor. Die Freisetzung der Luftblasen erfolgte nach einem Zufallsprinzip und doch wirkte das Ergebnis fast komponiert, was der Tatsache geschuldet ist, dass wir immer auf der Suche nach Mustern, Rhythmen, Strukturen sind. So entstand ein Feld sich überlagernder und durchdringender Wellenringe auf der Wasseroberfläche der dunklen Oker. Eine stille Arbeit an einem hektischen Ort, die mit der Analogie zwischen optischen und akustischen Wellen und Wellenfeldern spielt. In Tosterglope hatte ich geplant, dem Gartenteich eine visuelle Form zu geben. Vorbild sollte die so genannte Chladnischen Klangfiguren sein. Hierbei handelt es sich um geometrische Figuren, die sich abhängig von der Frequenz einer schwingenden Oberfläche bilden, zu beobachten wenn sich z.B. feiner Sand auf einer schwingenden Fläche befindet, der sich durch Impulse zu kleinen Dünen auftürmt. Dieses Phänomen habe ich in verschiedenen Versuchen für das Element Wasser untersucht. Hierfür wird eine schwingende, transparente Kunststoffplatte ganz knapp unter der Wasseroberfläche positioniert, um diese in Bewegung zu setzen. Durch Impulse mit hoher Frequenz wird das Wasser angeregt und es entstehen Mikro-Tsunamis, die Wellenberge und Täler ausbilden. Die Corona bedingte Absage der Ausstellung in Tosterglope ist für mich Anlass grundsätzlicher über das Ausstellen nachzudenken. Auch weil ich seit längerem einen eigenen Ausstellungsort plane: eine Galerie für künstlerisch-akustische Arbeiten und Beiträge. Ausgangspunkt ist eine ausrangierte Telefonzelle, die derzeit in der Peripherie meines Dorfes steht. Die Idee ist einen Ort zu schaffen, der sich ausdrücklich unterscheidet von dem tatsächlichen, geografischen Ort. Einen akustischen Ort für eine Person, einen Ort, der neue akustische Erfahrungen verspricht. Die ausrangierte Telefonzelle wäre mein zweiter bzw. Alternativvorschlag für die Ausstellung „Hörproben“ gewesen. Sie sollte an einer Straßengabelung mitten in Tosterglope aufgestellt werden. Hier sollte man eintreten und sich damit an einen Ort des puren Hörens begeben. Die akustischen Ereignisse in der Zelle sollten den Zuhörer herausholen, buchstäblich weg von der Straße, weg von dieser Straße, hin zu einem anderen Ort, der weit entfernt von dieser Situation und weit entfernt von diesem Dorf liegt. Auf der anderen Seite des Ozeans zum Beispiel zu einer anderen Zeit. Die „Zelle für akustische Ereignisse“ muss ein Ort des Hinhörens sein. Nicht eines distanzierten Hörens, das die rein kognitiven Bereiche des Gehirns anspricht, wie etwa beim Radiohören, wo es vornehmlich um Übermittlung von Informationen geht oder um Unterhaltung. Nein, es muss ein Ort des Hörens sein, der es ermöglicht das Vernommene in sich aufzunehmen. Ein Ort, der eine ganz individuelle, eigene Erfahrung ermöglicht. Ein Ort, an dem die Eintretenden akustischen Ereignisse erfahren, deren Wahrnehmung über den reinen Hörsinn hinausgeht, eine Wahrnehmung die den ganzen Menschen erfasst. Diese akustische Immersion wird zum einen möglich durch den Einsatz einer bestimmten Aufnahmetechnik des ursprünglichen akustischen Signals: Zu hören sind binaural aufgezeichnete und editierte Originalklänge, die ich selbst mit Originalkopfmikrofonen – an anderen Orten, zu anderen Zeiten digital mitgeschnitten habe, in Chicago, New York, Hamburg und Berlin zum Beispiel. Hinzu kommt, dass die Klangwiedergabe in der Zelle neben Lautsprechern an der Decke auch den Einsatz von Excitern im Boden umfasst, so dass in dem geschlossenen Raum der Zelle ein komplexes akustisches Ereignis entsteht – eine akustische Immersion wie sie sonst nur in aufwendig ausgestatteten Kinosälen möglich ist. Die „Zelle für akustische Ereignisse“ ermöglicht ein Eintauchen in eine andere Zeit und ein Auftauchen an einem anderen Ort, inmitten anderer Menschen und anderen Kulturen. Die Arbeit funktioniert wie eine Art Humboldt-Zelle – als akustische Reise und Zeitreise. Und das alles in einer unscheinbaren gläsernen Zelle irgendwo am Straßenrand in einem kleinen Dorf. Die „Zelle für akustische Ereignisse“ soll zudem zukünftig als Galerie auch Beiträge anderer Künstler*innen präsentieren. Und sie ist als Prototyp und Beispiel für viele andere Zellen zu verstehen, die im Moment noch als Bücherzellen benutzt werden. So würde ein weltweites Netz für akustische Reisen entstehen.

Ingo Schulz, Nieland / Meinersen, April 2020

Ingo Schulz (*1962) absolvierte 1997 das Studium der Freie Kunst/Bildhauerei an der Hochschule Hannover mit dem Schwerpunkt des Akustischen in der Bildenden Kunst.
Seit 2004 arbeitet und lehrt er als Künstlerischer Mitarbeiter an der HBK Braunschweig. Er leite dort das Labor für Klangkunst und unterstützt, neben anderen interdisziplinär ausgerichteten Fachklassen der HBK, die Studierenden von Professor Ulrich Eller in der künstlerischen Forschung und bei ihren Projektvorhaben.

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